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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 10. Dezember 2014

MR. TURNER – MEISTER DES LICHTS (2014)

Regie und Drehbuch: Mike Leigh, Musik: Gary Yershon
Darsteller: Timothy Spall, Dorothy Atkinson, Paul Jesson, Marion Bailey, Martin Savage, Karl Johnson, Lesley Manville, Mark Stanley, Jamie Thomas King, Niall Buggy, Joshua McGuire, Stuart McQuarrie, Sylvestra Le Touzel, Fenella Woolgar, David Horovitch, Patrick Godfrey, Leo Bill, Fred Pearson, Richard Bremmer, Sinead Matthews, Tom Wlaschiha, Lee Ingleby
 Mr. Turner
(2014) on IMDb Rotten Tomatoes: 97% (8,4); weltweites Einspielergebnis: $25,2 Mio.
FSK: 6, Dauer: 150 Minuten.

London, um 1825: Der romantische Landschaftsmaler William Turner (Timothy Spall, "The King's Speech"), Sohn eines Barbiers, ist bereits um die 50 Jahre alt und hat sich mit seiner Kunst durchaus etabliert. Er ist Mitglied der Royal Academy, verkauft seine Gemälde für gutes Geld und ist ein gerne gesehener Gast bei den reichen und/oder adligen Gönnern der Szene. Dabei ist Turner nicht gerade für perfekte Manieren bekannt – zwar gibt er sich meist höflich und sogar freundlich, allerdings hält er Schnaufen und Grunzen für gesellschaftlich anerkannte Mittel der Kommunikation. Außerdem ist er schnell genervt von nichtssagendem Small Talk und eitler Selbstbeweihräucherung, weshalb er entsprechende Unterhaltungen häufig mit einer bissigen Bemerkung abwürgt, sobald es ihm endgültig zu viel wird. Überhaupt widmet sich Turner eigentlich viel lieber der Natur als den Menschen, weshalb es ihn immer wieder in die kleine Küstenstadt Margate verschlägt, wo er sich Inspiration für seine Meeresgemälde holt. Als sein Vater William Sr. (Paul Jesson, "Coriolanus"), der ihm stets eine verläßliche Stütze bei der Ausübung der Malerei war und gemeinsam mit Haushälterin Hannah (Dorothy Atkinson) alles für ihn organisierte, stirbt, verfällt Turner jedoch in Depressionen …

Kritik:
Wie bei einem Film des britischen Altmeisters Mike Leigh ("Lügen und Geheimnisse") nicht anders zu erwarten, erwartet den Zuschauer mit "Mr. Turner – Meister des Lichts" keineswegs ein konventionelles Biopic á la Hollywood, in dem in hohem Tempo anekdotenhaft wichtige Lebensstationen der zentralen Figur abgearbeitet werden. Das wäre bei William Turner auch relativ schwierig, denn sein Leben verlief nicht sonderlich spektakulär. Turner litt nicht an einer seltenen Krankheit, er war nicht bettelarm und verkannt, er soff auch nicht (übermäßig) und nahm keine Drogen, er hatte keine Feinde … ja, noch nicht einmal erbitterte Rivalen. Turner schnitt sich kein Ohr ab wie van Gogh (der wohl jener Maler ist, dessen Leben am häufigsten verfilmt wurde, am bekanntesten 1956 von Vincente Minnelli unter dem Titel "Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft", mit Kirk Douglas in der Titelrolle) und verkehrte auch nicht mit russischen Revolutionären wie die Surrealistin Frida Kahlo (die meinen persönlichen Lieblings-Malerfilm "Frida" mit der grandiosen Hauptdarstellerin Salma Hayek inspirierte). Joseph Mallord William Turner war relativ normal – wenn man einmal davon absieht, daß er (zur anhaltenden Belustigung seiner Kollegen und der interessierten Öffentlichkeit) seine Gemälde oft anspuckte, um teilweise noch in der Galerie letzte Detail-Veränderungen durchzuführen. Dennoch ist es Leigh, der auch das Drehbuch schrieb, gelungen, mit "Mr. Turner" einen Film zu schaffen, der von den Kritikern bejubelt wird und in der Tat viele Stärken hat.

Dabei ist Leighs Vorgehensweise nicht nur stilistisch ungewöhnlich. Man könnte meinen, daß er sich angesichts des vergleichsweise unspektakulären Lebens von William Turner einfach ganz auf seine überragende Kunst konzentrieren würde; doch das ist nicht wirklich der Fall. Mike Leigh skizziert noch nicht einmal Turners Aufstieg zum erfolgreichen Maler – denn im Gegensatz zu vielen erst nach ihrem Tod berühmt gewordenen Malern (oder dem im Film als Gegenbeispiel präsentierten Sturkopf Benjamin Robert Haydon) verdiente Turner eben bereits früh gut an seinen Gemälden, und es wäre sicher interessant gewesen zu erfahren, wie Turner seine Kunst erlernte und dann an den Mann brachte. Aber das spielt hier absolut keine Rolle, stattdessen setzt "Mr. Turner" erst ein, als Turner bereits etwa 50 Jahre alt ist. Zu diesem Zeitpunkt ist er ein weithin respektiertes und bewundertes Mitglied der Royal Academy, auch wenn manche seiner Künstlerkollegen skeptisch bis spöttisch auf seine unkonventionelle Art in der Kunst wie im Leben blicken. Meiner Ansicht nach liegt hierin die vielleicht größte inhaltliche Schwäche von "Mr. Turner": Es wird zu wenig auf seine Malerei eingangen. Zwar wird in von Kameramann Dick Pope ("Dark City", "Happy-Go-Lucky") traumhaft schön gefilmten, wortlosen Aufnahmen, die gekonnt den Stil von Turners Landschaftsgemälden nachahmen, eingefangen, wie und wo sich der "Meister des Lichts" die Inspiration für seine Werke holte; auch darf man Turner immer mal wieder kurz beim Malen zusehen, wobei sich Leigh hierbei etwas zu sehr auf sein Gespucke konzentriert. Aber im Grunde genommen erfährt man nur sehr wenig über den Maler William Turner, über seine Techniken oder seine kunsthistorische Bedeutung. Dabei sind die wenigen Male, in denen das doch einmal ansatzweise geschieht, besonders eindrucksvoll. Allen voran gilt das für jene Szene, in der William Turner kurz vor Eröffnung einer Ausstellung kurzerhand und zum Entsetzen seine Maler-Kollegen einen völlig unpassenden, dicken roten Klecks auf sein Gemälde einer Küstenlandschaft setzt – nur um wenig später bei ebenjenen Kollegen wie auch dem Publikum einen beträchtlichen Aha-Effekt hervorzurufen, als er aus dem dicken roten Klecks in wenigen Schritten eine sich harmonisch in das Gesamtbild einfügende Boje gestaltet …

Zumindest ich hätte es sehr gerne gesehen, wenn "Mr. Turner" mehr solcher direkt auf Turners Kunst bezogene Szenen zu bieten hätte – doch Mike Leigh war offenbar primär an einem genau beobachteten Künstlerporträt gelegen, weshalb sich sein Fokus über weite Phasen auf Turners Privatleben richtet. Dabei gibt es selbst darin keine Katastrophen – wenn man einmal davon absieht, daß der niemals verheiratete Turner selbst offensichtlich eine Katastrophe als Vater zweier unehelicher Töchter ist. Und so konzentriert sich Mike Leigh fast gänzlich darauf, das Porträt eines begnadeten, exzentrischen und sogar wegweisenden Künstlers – er gilt als Vorläufer des Impressionismus – zu zeichnen, vermischt mit einem leicht spöttischen Sittenbild des 19. Jahrhunderts. Das ist dank Timothy Spall stets interessant und amüsant, denn der nicht gerade bildschöne ewige Nebendarsteller (am besten bekannt als Peter Pettigrew alias Wurmschwanz in den "Harry Potter"-Filmen) nutzt die Gelegenheit seines Lebens weidlich aus und zeigt eine imposante Vorstellung, die ihm eigentlich seine erste OSCAR-Nominierung hätte bescheren sollen (stattdessen gab es für "Mr. Turner" immerhin vier in technischen Kategorien). Zwei Jahre lang hat sich Timothy Spall auf diese Rolle vorbereitet, sich dabei intensiv im Malen unterrichten lassen, vor allem aber viel Zeit auf die Charakterisierung des wenig vornehmen, ebenso bärbeißigen wie im Kern freundlichen und gefühlvollen Künstlers verwendet. Turner weiß zwar stets clevere Bonmots zu setzen, beinahe noch mehr kommuniziert er allerdings durch Grummeln, Knurren und vor allem Grunzen, was Spall einfach perfekt umsetzt. Er beherrscht den Film mit seiner schauspielerischen und körperlichen Präsenz, weshalb die Nebendarsteller einen schweren Stand haben. Die sind zwar zahlreich, doch haben wenige genügend Szenen, um nachhaltig im Gedächtnis zu bleiben. Die einzige echte Ausnahme ist die vor allem als Theater-Schauspielerin tätige Dorothy Atkinson mit ihrer ebenso amüsanten wie bewegenden Verkörperung der hingebungsvollen Haushälterin Hannah.

Insgesamt ist "Mr. Turner" erstaunlich humorvoll geraten, vor allem der Blick auf die (höhere) Gesellschaft erinnert in seinem spöttischen Unterton beinahe an Jane Austen – speziell wenn Leigh immer wieder in nahezu epischer Breite den selbstgefälligen Small Talk der adligen Gönner seziert, der meistens erst durch eine treffend spitze Bemerkung Turners zum Erliegen gebracht wird. Wobei diese leise, subtile Form des Humors viele Betrachter offenbar gar nicht erst bemerken, denn im Internet kann man zahlreiche Zuschauerkritiken lesen, die sich über das angeblich weitgehende Fehlen von Humor beschweren – mir ist das absolut unverständlich, aber Humor ist und bleibt nunmal Geschmackssache. Kritisch einwenden kann man allerdings sehr wohl, daß für diesen relativ eng gefaßten Ausschnitt aus einem wenig aufregenden Leben eine Laufzeit von fast zweieinhalb Stunden ziemlich viel ist. Tatsächlich zieht sich "Mr. Turner" in der zweiten Hälfte etwas, wenn man den Maler und seine Marotten bereits kennengelernt hat und Leigh leider nicht mehr allzu viel Neues zu bieten hat – zumal die sehr gemächliche Erzählweise sowieso eine gute Portion Geduld beim Zuschauer einfordert.

Fazit: "Mr. Turner – Meister des Lichts" ist ein kunstvoll gefilmtes und präzise beobachtetes Porträt eines genialen Künstlers, der sich zwar ordentlich in die höhere Gesellschaft einfügt, mit seiner Arbeiter-Herkunft und seinem exzentrischen Verhalten aber dennoch klar daraus hervorsticht – neben der Thematik sorgt auch das langsame Erzähltempo dafür, daß es sich eindeutig um einen an das Arthouse-Publikum gewandten Film handelt, der aber etwas mehr Augenmerk auf Turners Kunst und etwas weniger auf sein Privatleben hätte legen dürfen.

Wertung: 7,5 Punkte.


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